(Quelle: http://www.faktuell.de/Hintergrund/Background376.shtml)
Traumziel Rügen - und wie ich es ganz genau wissen wollte
oder: Schwäneknutschen verboten
Von Philipp Berger * 24.02.2006
"Schon wieder fünfzig tote Schwäne auf der Insel Rügen in Mecklenburg-Vorpommern!", tönte es aus dem Radio. In der Tagesschau hieß es, es gebe nicht genügend Helfer, um die toten Schwäne einzusammeln, die auf Rügen wohl zu "Abertausenden" tot herumliegen würden. Seit einer Woche spielte ich mit dem Gedanken, eine Rügenrundreise zu unternehmen. Jetzt wollte ich es genau wissen.
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Ich suchte mir die Nummer des Gesundheitsamtes des Landkreises Rügen heraus. Das nahm einige Zeit in Anspruch. Ich konnte auf der offiziellen Rügen-Seite keine Angaben dazu finden. Panik machte sich in mir breit. Es war Freitag, die Zeit lief mir davon, mittags würden sicher alle Behörden im Wochenende sein. Ich hatte Glück. Der Notplan sah für die Angestellten an diesem Tag etwas anderes vor. Als ich die Nummer gefunden hatte war es zwar Nachmittag. Am anderen Ende meldete sich dennoch eine Frau. Sie hörte sich kurz mein Anliegen an und verband mich anschließend mit einer Expertin, Frau Schmidt hieß sie.
Frau Schmidt konnte es offensichtlich kaum erwarten, mich vor der Gefährlichkeit dieses Virus zu warnen. "Jaja, das Virus, das man in den zwei Schwänen nachgewiesen hat ist hochpathogen!", meldete sie sich. Ich war etwas perplex ob dieser Begrüßung, stellte mich nachträglich vor und erklärte ihr meine Situation. Ich sei ein potentieller Rügen-Urlauber und habe nur deshalb angerufen, um mir ein Bild von der Lage machen zu können, da die Nachrichten mir bisher kein eloquentes solches hatten vermitteln können.
Frau Schmidts Antwort auf die Frage, wie schlimm die Lage sei: "Es ist sehr schlimm. Aber Sie können trotzdem ruhig kommen, wenn Sie sich von toten Wildvögeln fernhalten." Diese nämlich hätten das hochpathogene H5N1-Virus in sich, was jedoch nur im direkten Kontakt mit den Vögeln gefährlich werden könne, "also wenn Sie die toten Tiere beispielsweise streicheln oder gar küssen würden".
"Küssen?", fragte ich mich verdutzt. Nun, fremde Länder, fremde Sitten. Vielleicht war das auf Rügen üblich. Schwäneknutschen als neuer Trendsport. Ich ließ den Gedanken vorerst beiseite, denn Frau Schmidt erklärte mir gerade, dass es zwar überall nur so von "toten Schwänen wimmle, man die Lage jedoch unter Kontrolle habe". Viele Schwäne lägen auf dem Eis, auf das die Helfer derzeit nicht ungefährdet gehen könnten, um sie einzusammeln. Daher benötige man derzeit auch keine weiteren Helfer.
"Nun gut, keine Helfer, also doch Urlaub", dachte ich und fragte weiter: "Gibt es Sperrzonen, in die man als Urlauber gar nicht mehr kommen kann?"
"Nein", sagte Frau Schmidt "lediglich gewisse Gefahrenzonen, man kann als Urlauber jedoch noch überallhin gelangen. Allgemein ist es aber ratsam, den Kontakt mit toten Vögeln zu meiden und sie insbesondere nicht zu küssen".
Schon wieder sollte ich keine Schwäne küssen. Die Frau erschien mir etwas kussfixiert. Ich ging auch diesmal nicht weiter darauf ein. Stattdessen stellte ich fest: "Das heißt also, es ist gar nicht so schlimm, wie es in den Nachrichten immer dargestellt wird?" Jetzt wurde Frau Schmidt ganz aufgeregt. "Doch, doch, das Virus ist hochpathogen, es ist sehr gefährlich. Sie dürfen die toten Schwäne auf gar keinen Fall streicheln oder küssen!"
Langsam nervte mich diese Sache mit dem Küssen wirklich. War es auf Rügen tatsächlich üblich, jeden toten Schwan zu berühren und ihm einen Abschiedskuss zu geben? Wurden hier wilde Strandparties gefeiert, Kuscheln mit wilden Schwänen? Oder war Frau Schmidt einfach nur reif fürs Wochenende? Ich ließ das Thema fallen. Frau Schmidt bekräftigte dagegen abschließend, solange man dies beachte, könne man Rügen ruhig besuchen kommen. Anschließend erklärte sie mir noch, dass man momentan auch verstärkt die Augen nach totem Gefieder aufhalte und "aktiv" nach toten Vögeln suche. Ich solle mir halt überlegen, ob ich kommen wolle. "Tja", dachte ich bei mir. Rügen ist vermutlich sehr verwinkelt, die Klippen versperren die Sicht, wahrscheinlich muss man deshalb nach den vielen toten Vögeln aktiv suchen."
Ich verabschiedete mich von Frau Schmidt und entschloss mich, bei den Einwohnern nachzufragen. Meine erste Station war Neuendorf auf Hiddensee.
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Das Telefon klingelte, ich stellte mich vor und erklärte mein Anliegen. Offensichtlich kam mein Anruf nicht ungelegen, denn Herr Müller nahm sich sofort die Zeit, mir meine Fragen zu beantworten. Es waren dieselben, die ich Frau Schmidt gestellt hatte.
Doch Herr Müller schien ganz woanders zu leben. Er erzählte mir, dass das Sterben der Schwäne zu dieser Jahreszeit wohl ganz normal sei. "Jedes Jahr sammeln sich die Tiere in der geschützten Bucht des Wieker Boddens und des Rassower Stroms um dort zu überwintern. Dabei sterben jedes Jahr zig Schwäne, die zum Teil auf dem Eis festfrieren und dort liegen bleiben, zum Teil auch im Wasser treiben." Das sei ganz unterschiedlich. "Nur dieses Jahr", so meinte er, "kommt auf jeden toten Schwan ein eigenes Fernsehteam. Normalerweise sind die Schwäne auch jedes Jahr im Winter gefüttert worden." Dieses Jahr sei das jedoch ausgeblieben. "Warum? Das wüsste ich auch gern."
Auf jeden Fall seien dadurch eben viel mehr Vögel als sonst betroffen.
"Entweder erfrieren sie oder sie verhungern. Normalerweise wären diese Tiere dann von Aasfressern wie Füchsen aufgefressen und weggeräumt worden." Ich fragte ihn, was er von der Pathogenität des Virus halte.
Seine Antwort blieb unbeirrt. "Ach, wissen Sie was, das war wahrscheinlich schon immer in den Vögeln drin. Das ist eben Natur. Nur, dass die Menschen daraus jetzt wieder so eine Riesengeschichte machen. Die könnten jetzt genausogut hingehen und ein paar toten Füchsen die Tollwut bescheinigen. Und trotzdem sind die nur verhungert, weil man ihnen ihr Futter vorenthalten hat - wie dieses Jahr den Schwänen. Und das, obwohl doch der Winter dieses Jahr sogar noch härter war, als in den letzten Jahren! Eine große Sauerei, wenn Sie mich fragen!" Herr Müller schwärmte noch kurz von den Vorteilen einer Rügenreise mit Aufenthalt auf Hiddensee. Vor allem in diesem Jahr, da es wohl ganz besonders leer und ruhig sein würde.
Mein nächster Zielort war Schaprode. Ich rief eine Dame an, die auflegte, während ich gerade meine Lage schilderte. Offenbar war ich nicht der erste Anrufer. Ich rief also die zweite Person in Schaprode an, Frau Meier. Frau Meier meldete sich mit freundlicher Stimme, aber leicht genervtem Unterton. Ich erklärte ihr, was ich auch Herrn Müller schon erklärt hatte und teilte ihr auch mit, dass ich bereits beim Gesundheitsamt in Bergen angerufen habe, mich die dortigen "Berater" jedoch noch mehr verwirrt hätten. Als sie das hörte verschwand der Unterton aus ihrer Stimme. Frau Meier begann zu erzählen. Ihre Geschichte ähnelte stark der von Herrn Müller, aber kaum der von Frau Schmidt. Das Gesundheitsamt selbst könne man ja nicht wirklich ernst nehmen, meinte sie denn auch. Zum Abschied lud sie mich sogar ein, sie in Schaprode im Laden zu besuchen.
Ich gab mich immer noch nicht zufrieden. Meine nächsten Opfer wohnten in Trent und Vaschvitz. Dabei bekam ich noch etwas anderes heraus: Auf meine Frage, ob es denn irgendwo abgesperrte Zonen gebe, sagte mir ein Mann: "Jaja, da hinten in der Pampa haben sie so Polizeiband gespannt, an ein paar Pfähle. Aber da kann man trotzdem hin, da ist keiner, der das kontrolliert." Ähnliches hörte ich bei allen Angerufenen, darunter Bauern, Verkäufer und sogar ein Tierarzt.
Ich gestehe, ich blieb etwas verwirrt an diesem Freitag an meinem Telefon zurück. Als ich mir anschließend in der Küche einen Kaffee machte, kam Felix, ein Nachbar auf meinem Etagenflur im Wohnheim, hinein. Missmutig maulte er, dass er sich kaum noch traue, irgendwas zu essen. "BSE, Gammelfleisch, jetzt Vogelgrippe, nicht mal Grünzeug kann man essen, da sind Pestizide dran."
Ich winkte ab. "Lass mal, ist alles halb so schlimm." Dann erzählte ich ihm von meiner persönlichen Recherche. Und endete mit meinem Entschluss, mir die Sache selbst anzusehen. "Ich bringe Dir auch ein paar Schwanenfedern mit", sagte ich grinsend. Felix schaute mich merkwürdig an. In seinen Augen lag eine Mischung aus Mitleid und Vorsicht. Dann schlurfte er aus der Küche. "Ich würde mir noch mal überlegen, ob ich das mache an deiner Stelle" meinte er beim Hinausgehen. "Die werden ja wohl nicht alle ungeprüft irgendwelchen Mist schreiben und weiterverbreiten. Die Journalisten werden schon wissen, wovon sie da berichten."
Mit diesen Worten ließ er mich zurück.
Ich schaute aus dem Küchenfenster. "Schade, dass es hier im neunten Stock kaum Vögel gibt", dachte ich. Immerhin, für Frankfurt war das sogar eine recht grüne Ecke, hinten raus hatten wir einen Friedhof. Wer tiefer wohnte, hörte im Frühling bestimmt auch mal den einen oder anderen Vogel zwitschern, zwischen dem Jaulen der Feuerwehrsirenen und dem Quietschen der U-Bahnen, wenn die in ihre Depots kurvten. "Trotzdem", dachte ich. "Kein guter Platz für die Vogelgrippe." Dann ging ich in mein Zimmer. Ich musste noch meinen Rucksack für Rügen packen.
Lesetipp: Dr. Lanka - Vogelgrippe, H5N1...